Hallo Clemens,
nach Kirchhoff ist seit über 100 Jahren jedes lineare Netz aus beliebig vielen Quellen und Widerständen durch Überlagerung zu berechnen. Das gilt auch für Wechselspannungen. Leitungen ändern daran auch nichts, denn sie sind linear. Man braucht den Generator nicht auszuschalten, denn sofern er dabei seinen Innenwiderstand nicht ändert (Rückwirkungsfreiheit war voraus gesetzt!), ändert sich in der Summe nichts. Diesen Satz: "Ansonsten könnte man ja das SWR auf der Leitung durch einen Tuner am Generatorende verändern,was bekanntlich nicht möglich ist." verstehe ich nicht ganz. Ein Tuner am Leitungseingang beeinflusst sehr wohl das SWR auf der Leitung. Das ist ja gerade der Unterschied in der Betrachtung. Der alte Ansatz ignoriert das, indem er zur Vereinfachung |r1|=1 setzt. Das ergibt eine kompakte Formel, die bei üblichen Leitungsdämpfungen (sagen wir mal >1dB) und geringen Fehlanpassungen (SWR*<3) nur sehr wenig von der exakten Berechnung abweicht. Berücksichtigt man beide Reflexionsfaktoren r1 und r2, so wird die zugehörige Formel sehr unhandlich. Doch als Diagramm ausgedrückt sieht man die Unterschiede.
Es ist eine Frage, ob man das SWR2 grundsätzlich immer nur auf den Wellenwiderstand (gemeint ist der Wert bei Anpassung, der im Datenblatt steht) der Leitung bezieht, oder ob man die am Ausgang tatsächlich vorhandene Reflexion r2 in ein SWR2 umrechnet. Nur diese letzte Definition macht eigentlich einen Sinn, denn nur die kann man indirekt und unter Beachtung von Randbedingungen mit einer Stehwellen-Messbrücke messen.
Du schreibst: "Das Z° der Leitung an der Last ist für die Last die Quellimpedanz, egal welchen Innenwiderstand der Generator/Tuner am anderen Ende hat." Nein, die Last "weiß nichts" von einer Leitung. Sie sieht nur eine Quelle, die einen Innenwiderstand Za hat. Der ist aber vom Eingangswiderstand Ze der Leitung abhängig und beide kann man problemlos mit einem Netzwerkanalyssator messen. Angesehen davon würde deine Aussage bedeuten, dass das von der Last reflektierte Signal vollständig im Rg absorbiert werden müsste. Auch das stimmt nicht. Es wird aber auch nicht vollständig reflektiert. Auch das kann man beides mit dem Netzwerkanalysator messen.
Zu deiner Frage: Wenn nur einmal (an der fehlangepaßen Last) reflektiert wird, dürfte man mit Impulsen nur den vor und rücklaufenden Impuls sehen, richtig? Eine konjugiert komplexe Anpassung bedeutet nicht, dass der zugehörige Reflexionsfaktor vom Betrag 0 sein muss. Es bedeutet lediglich, dass die maximal mögliche Wirkleistung übertragen wird. Bei komplexen Ze folgt, dass Re{r1}=0 ist, Im{r1} kann aber >0 sein und damit der Betrag 0<|r1|<1. Das heißt, es gibt bei konjugiert komplexer Anpassung am Eingang eine Reflexion, wenn Im{Ze}<>0 ist. Das trifft i.a. zu, es sei denn, die Leitung ist zufälligerweise ein Vielfaches von Lambda/2 lang und die Last war reell.