(Vorabdruck: Der Artikel wird in der CQ-DL erscheinen.)
Morgens sitzt der OM mit seiner Frau am Frühstückstisch und lässt sich den Kaffee und die Brötchen schmecken. Er liest eine Zeitung, die nichts Neues aus der Welt berichtet, während seine Gattin ihn über den bevorstehenden Einkaufsbummel informiert. Im Hintergrund hört man ein Kurzwellenradio. Es tummeln sich einige Stationen auf dem Band, aber der Artikel über die ... Plötzlich verändert sich die Haltung des OM: Er sieht zum Radio hinüber. Eben hatte er zweifelsfrei eine Station erkannt, die ihm seit langem im Log fehlt. Er verschüttet seinen Kaffee und rennt zum Shack.
Was war passiert?
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Wenn er sich auf das Gehör alleine verlassen hätte, hätte er keine Chance gehabt, das Rufzeichen aus dem Geräuschpegel herauszufiltern. Wie ein Stereomikrofon hätte er alle Geräusche der Küche getreulich registriert, aber keinen Alarm geschlagen. Somit waren es nicht die Ohren, sondern das nachgeschaltete Hirn, dass alle eingehenden Töne analysierte und filterte: Zeitungsrascheln, Brötchenknacken, Kesselpfeifen, Frauengeplapper ... alles uninteressant und unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. Aus dem Radio tönten vier Stationen gleichzeitig und dann "CQ CQ CQ DE FO..."
Wenn man als angehender CWist über die Buchstabierphase in CW hinausgekommen ist, beginnt die Magie und man kann einzelne Buchstaben erkennen. Es ist nicht mehr die Punkt/Strichfolge, sondern ein Rhythmus oder eine Melodie, die sich einprägen. Tonhöhen und Melodieerkennung (Abfolge von verschiedenen Tönen) werden nicht im Ohr, sondern u.a. in der primären Hörrinde verarbeitet. So kann man leicht aus einer Klangkakaphonie einzelne Töne heraushören - filtern und unser Gehirn auf diesen Reiz fokussieren.
Wenn ein CW-Buchstabe als Rhythmus erkannt wird, werden sehr viele weitere Hirnareale aktiviert, die sogar den zuständigen Bewegungsbereich (Fußklopfen) umfassen.
Aber der erste Buchstabe in der Abkürzung "CQ" in kodiert in Morsezeichen ist noch nicht besonders interessant. Ein geübter CWist hört keine Buchstaben mehr, sondern Q-Codes, Abkürzungen und Worte. Die Melodie/der Rhythmus der Buchstabenfolgen sind durch das Training verinnerlicht und liegen als "komplexe Muster" vor, die als Ganzes erkannt werden ("pattern matching") werden. Doch die Verarbeitungsleistung des Gehirns geht noch weiter. Das DIT-DIT-DIT-DAH Motiv im Kopfsatz von Beethovens 5.Symphonie ist Musik (Melodie und Rhythmus), für den "einfachen" OM ist dies allerdings nur der Buchstaben "V" .
Wenn wir deutsche Funkamateure "CQ" hören, verbinden wir dies mit der Übersetzung "Allgemeiner Anruf". Und genau diese Verbindung haben wir unserem Hirn in den Sprachverarbeitungsregionen an trainiert. Es gibt fast keinen Unterschied zwischen dem CW-CQ und dem vom Menschen gesprochenen "CQ". Unser Gehirn wandelt diese Tonfolgen in Verständnis um.
Aber alle OMs der Welt sprechen die Sequenz "CQ" im Sprechfunk anders aus: "Sie Kuh", "ceku", "zieh Kuh" ... Nun haben wir ein weiteres Problem: Varianten der Ausprache oder Dialekte Doch wir sind nicht erst seit gestern Funkamateure und haben schon fleißig trainiert. Wir haben viele Patterns abgespeichert, die sich alle mit dem "CQ", das wir er warten, spiegeln. So werden in unserem Kopf die Varianten immer wieder in den Begriff "Allgemeiner Anruf" übersetzt.
Bei der Produktion von Varianten des sprachlichen Ausdrucks kann der geübte CWist locker mithalten: Er gibt schnell, langsam, ohne Pause, vergisst einen Punkt, ... und trotzdem verstehen wir es, da der Grundrhythmus und die Melodiekontur ähnlich sind. Außerdem stehen wir in einem Kommunikationsszenario und haben eine berechtigte Erwartungshaltung: Jetzt sollte mal einer "CQ" rufen!
CW als Sprache
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Wenn wir CW als Kommunikationsszenario betrachten, dann ist CW unser Medium oder unsere Sprache. Was macht CW als Sprache aus? Zuerst die Kodierung der Buchstaben, die ein besonderes Medium benutzen. Aus diesen Buchstaben werden Worte gebildet, deren Kern einige feste Begriffe umfassen, z.B. Q-Codes. Die eingeschränkte Syntax(z.B. "CQ de XXX") folgt den Erfordernissen des uns zur Verfügung stehenden Mediums. Bei Klartext-QSOs gelten die Regeln der jeweiligen verwendeten Sprache, die wir verinnerlicht oder gelernt haben (Englisch).
Der geübte CWist kann einen "CW-Satz" wie das Gespräch am Nebentisch in einem Restaurant verfolgen. Über das Ohr bis zum (Sprach)Verständnis wird die Übersetzungsleistung vom Gehirn geleistet. Im Sprachzentrum klingeln nach dem "unbewusst" oder nebenbei aufgenommenen "CQ CQ de " bei "FO..." plötzlich die Alarmglocken, die der OM vorher "programmiert" hatte.
Sein Sprach-, Sprech-, motorisches und Erinnerungsvermögen sind miteinander vernetzt. Seine Wissensaneignung funktioniert "nur" über die Verknüpfung von neuen Fakten an alte, vorhandene "Wissensnetze". Somit wird bei der Buchstabenfolge "FO" augenblicklich die Liste der fehlenden Calls aufgerufen.
Da kommt in unserem Hirn einiges an "Rechenleistung" zusammen, um den armen OM zu veranlassen seinen Kaffee zu verschütten.
73 de Hajo